Aktion Mensch

 

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Fluchtpunkt Sonderschule

Ein Projekt  mit Unterstützung der Aktion Mensch Jugendhilfe 2005 – 2008

Im Projekt „Fluchtpunkt Sonderschule“ wurden von 2005 bis 2008 Alternativen zur Förderschuleinweisung von Migrantenkindern erprobt. Es schuf ein praxisnahes Netzwerk und unterstützte eine entsprechende Spezialisierung im sozialen Zentrum des Nippes Museums Köln. Förderung und Beratung stehen weiter stadtweit zur Verfügung, Praxis- und Institutionsberatung auch überregional. Das besondere Phänomen der Überrepräsentation von Migranten in harten Karrieren diente zugleich als Brennglas, um die kommunale Schülerförderung und schulische Selektion an starker Latte zu messen. Was war über deren Wirksamkeit, Legitimität und interkulturelle Öffnung zu erfahren? Die Auswertung führte zu qualitativen Kriterien der Bewertung von Maßnahmen und Unterricht in Jugendhilfe und Schule. Moderierende Beratung, Vernetzung und Einmischung verbreiterten die Partizipation von Praktikern, Schülern und Familien vor Ort.

Teilnehmer waren Schüler, Praktiker und Politik. An der Förderung nahmen jährlich zehn Migrantenkinder teil, für die Verfahren zur Überprüfung von sonderpädagogischem Förderbedarf bevorstanden. Zusätzlich wurden Kinder aufgenommen, für die das Verfahren bereits beantragt oder eröffnet war oder die schon Förderschulen besuchten. Vereinzelt wurden Geschwisterkinder, die noch nicht von einem Verfahren betroffen waren, einbezogen. Insgesamt nahmen in der Laufzeit von November 2005 bis Oktober 2008 38 Migrantenkinder im Alter von 8-16 Jahren aus Grund-, Haupt- und Förderschulen teil, davon 36 aus Köln und zwei aus dem Umland. Bei 22 Teilnehmern drohte eine sofortige Förderschuleinweisung, bei den übrigen 16 Nichtversetzung, Scheitern bei den Übergängen in die Sekundarstufe und in den Beruf oder vorzeitiger Schulabbruch.

Ziele, Schwerpunkte, Methoden

Aufbauende Förderung als Korrektiv zu repetitivem Lernen und sozialer Selektion

Die Perspektive war ein Zentrum mit beispielhaft erweiterten Kompetenzen und Methoden der Schülerförderung unter Berücksichtigung der Schwerpunkte Treffpunkt, alternative Diagnostik, Familien- und Fachberatung, Förderpläne und Mediation, aufbauend auf der vorhandenen Schülerförderung im Jugendladen Nippes. Die Methoden der Förderung wurden zunächst im Projekt, zunehmend auch für die sonstige Schülerförderung revidiert. Aufbauende Methoden wurden im Unterricht, sozial- und jugendpflegerische Ansätze in der Beratung erprobt. Defizitorientierte Prognosen und Förderkonzepte wurden mit Blick auf verkannte Ressourcen der Jugendlichen und Familien überprüft. Einzelunterricht erhielt Vorrang vor Hausaufgabenhilfe. Als wichtigste Methode oder besser: Ressource wurde das tägliche, auswertende Gespräch über Erlebnisse in Schule, Freundschaft, Familie und Fachunterricht gepflegt. Sprech-, Schreib- und Leseförderung wurden um Literaturarbeit und kritische Sprachbeobachtung erweitert, der Zugang zu Sachkunde, Mathematik und Sprache durch Philosophieren mit Kindern verbreitert. Die Schüler und Schülerinnen wurden ermutigt, die Einrichtung als Treffpunkt und zur Begegnung mit Schülern aus allen Schulformen und Altersgruppen zu nutzen.

Partnerschaftliche Beratung und fallbezogene Vernetzung

Begutachtung der Kinder und Beratung von Eltern hatte bei drohender Förderschuleinweisung – von den Betroffenen teils unbemerkt – in allen Fällen schon stattgefunden, sei es durch Kindergärten, private Therapeuten, Lehrkräfte der Grundschule oder Freunde und Bekannte. Die Moderation der Beratung im Projekt begann mit Rekonstruktion und Auswertung dieser Vorgeschichte. Die Eltern erhielten Rat bei Beschaffung und Analyse von Zeugnissen, Schriftwechseln und Akten. Beratungsgespräche in Schule oder Ämtern wurden vor- und nachbereitet, Deutungsmuster ausformuliert und hinterfragt: Werden wir gerecht behandelt? Hilft eine Beschwerde über Diskriminierung oder muss ich eine wohlwollende, fachliche Absicht annehmen? Motive und Handlungsmuster der Institutionen und Fachkräfte wurden mit der Perspektive der Eltern verglichen. Eine vergleichende Sicht auf den Einzelfall fundierte die Zusammenarbeit mit Familien- und Rechtsberatung. Kollegiale Fallbesprechung, alternative Begutachtung und Auswertung der außerschulischen Förderung verfeinerten das Bild von der Lebenslage der Kinder. Konsens bestand darüber, eine partnerschaftliche Gesprächsbasis durch Transparenz über Professionen, fachpolitische Alternativen, Rechtslage und Verfahrensnormen zu schaffen. Die Ausweitung der Schul- und Beratungserfahrungen nutzte dazu 1. interprofessionellen Vergleich, d.h. Ausformulierung und gleichberechtigte Würdigung des konkreten Falls aus der Perspektive der beteiligten Professionen (z.B. Lehrer, Sozialpädagogen, Psychologen, Richter); 2. innerprofessionellen Vergleich, also Identifizierung der im konkreten Fall vertretenen Positionen, Lehrmeinungen, Schul- oder Einrichtungsprofile (z.B. Reformorientierung vs. Selektion in der Schule; ganzheitliche Orientierung vs. Individuelle Sozialkontrolle in der Jugendhilfe und Präferenzen für verhaltenstherapeutische, systemische, psychoanalytische oder gemeindepsychiatrische Auffassungen in der Familienberatung) und 3. Aufwertung von Rechtsstaatlichkeit: die Pflege oder Wiederherstellung rechtsstaatlicher Normen im Umgang zwischen Institutionen und Familien. Konkrete Ansatzpunkte für die Beratungsgespräche boten die vergleichende Bewertung von Tests und Gutachten, psychosoziale Diagnose, förderpädagogische Gutachten, Spiegelung von Noten und Prognosen, Unterrichts-beobachtung, Rechtsberatung, interprofessionelle Spiegelung von Unterricht und Schulprofil im Lehrerkollegium, Mediation, Förderplanentwicklung- und –vereinba-rung, und – wo nötig – auch gerichtliche Verfahren. Auch weniger konventionelle Formen der Recherche und Konfliktaustragung wurden erprobt: von der aktivie-renden Beobachtung durch die Schüler und Anstößen zur Modifizierung des Schulunterrichts (Retroförderung) über die Elternmitbestimmung bis zur Grün-dung von Elterninitiativen und fallbezogenen Initiativen in der Lokalpolitik.

Anregungen für Schule und Jugendhilfe vor Ort

Die Partizipation von Eltern und Schülern wurde bei problematischer Handhabung des Überprüfungsverfahrens auch fallübergreifend unterstützt. In zwei Fällen schlossen sich aktive Eltern zu gemeinsamen Aktionen an Schulen zusammen, z.B. wegen der mit Einführung von gemeinsamem Unterricht (GU) erhöhten Fall-zahlen beim Förderschulverfahren und der schon im Vorfeld verstärkten Selektion. In einer Umlandgemeinde entstand eine Elterninitiative. Meist fehlten die Voraussetzungen einer Solidarisierung, oder sie musste unterbleiben, um takti-sches, nur auf Durchsetzung bedachtes Verhalten zu vermeiden. Vorrang besaß grundsätzlich die Beratung unter Beteiligung aller Akteure, um diese in ihrer spezifischen Verantwortung für den Einzelfall und alternative Förderung zu gewinnen. Intervention zu allgemeinen Problemen der Schulen oder Schulformen erschien nur dann angebracht, wenn sich konkrete und örtlich umsetzbare Handlungsempfehlungen direkt aus der Praxis ergaben, so z.B. bei der in einigen Schulen versuchten Einführung von „Defizitberichten“ oder „Wochenzeugnissen“, der An-zeige von Kindeswohlgefährdung unter Umgehung des Persönlichkeitsschutzes, bei der erwähnten, durch den gemeinsamen Unterricht induzierten Erhöhung der Fallzahlen, therapeutischer Überformung des Regelunterrichts durch gemeinsamen Unterricht (GU) und bei markant von professionellen Normen abweichender Selektions- oder Prognosepraxis einzelner Lehrkräfte, Schulen oder Schulprofile.

Wissenschaftliche Begleitung

Förderung und Beratung wurden im Rahmen einer wissenschaftlichen Begleitung aus psychosozialer, familientherapeutischer und juristischer Sicht gespiegelt. Dabei bewährte sich wieder die Kooperation der Projekteinrichtung mit der internati-onalen Familienberatung und einem auf Schulfragen spezialisierten Anwaltsbüro. Ausgewählte Migranten- und Jugendzentren mit Schülerförderung wirkten bei der Nachmittagsbetreuung in anderen Stadtteilen mit, vereinzelt auch mit dem Ziele der Praxisberatung. Die Einzelfälle wurden praxisbegleitend besprochen und bei halbjährlich stattfindenden Treffen qualitativ ausgewertet. Die Auswertung fand unter vier Gesichtspunkten statt: 1. Lebenslagen, Handlungspläne, Methoden- und Zielrevision; 2. Entwicklung, Ergebnisse und Misserfolge im zeitlichen Verlauf; 3. Erkenntnisse zu schulischer und außerschulische Förderung, Beratung und Vernetzung und 4. soziologische, bildungs-, jugend- und kommunalpolitische Erkenntnisse und Empfehlungen.

Ergebnisse und Empfehlungen

Verbesserung der Schullaufbahnen

Die Förderung bewirkte, dass 18 von 22 Schülern und Schülerinnen, für die ein Sonderschulverfahren geplant oder eröffnet war, letztlich keine Förderschule be-suchen mussten. Nicht verhindert wurden zwei Einweisungen in eine Förder-schule Lernen und eine in eine Förderschule für emotionale und soziale Entwick-lung. In einem weiteren Fall kam es zur Feststellung eines Förderbedarfs mit Teilnahme am gemeinsamen Unterricht. Zwei ältere Absolventinnen einer LB-Schule holten einen Hauptschulabschluss außerhalb der Schule nach. In zwei Fällen wurde eine Rückschulung von der Förderschule zur Hauptschule bzw. Re-alschule erreicht, in einem gelang der Übergang zur Hauptschule nach der Integration in der Grundschule. Bei drei Teilnehmern ist der Verbleib unbekannt oder noch nicht abschließend entschieden.

Aufbauende Förderung statt Kompensation

Die Rekonstruktion der Beratungskarrieren ergab, dass eine ausreichende Ge-sprächsbasis zwischen Lehrkräften, Kindern und Eltern meist schon vor dem offiziellen Scheitern der Kinder und dem manifesten Konflikt über die Förderschul-einweisung, teils seit Schuleintritt fehlte. Als Gründe der Entfremdung ließen sich innerhalb der Schule erkennen: ein quasi-therapeutischer Blick auf Kinder und Förderung, Elternberatung unter der Prämisse familiärer Defizite, sozial differen-zierte, von den Familien nicht durchschaute Modi der Förderung und Konfliktaus-tragung und infantilisierende Formen der Elternbeteiligung. Eltern trugen zum Ge-sprächsabbruch bei durch Schweigen, Passivität oder Anpassung an für sakrosankt genommene Therapievorschläge, daneben durch Personalisierung oder Ethnisierung der Deutungen und Konflikteskalation als Abwehr subtiler und offe-ner Sanktionierung. Zur Schaffung einer neuen Gesprächsbasis sind vor einem solchen Hintergrund weitere Androhung von Zwangsmitteln, Überredung, psychi-sche Gewalt, Tabuisierung von Gesprächsformen und Einstellungen in Schule und Familien zu vermeiden.
Die Auswertung der Förderkarrieren ergab, dass die innerschulische individuelle Förderung, aber auch defizitorientierte außerschulische Förderung, Lern- und Verhaltenstherapien meist schon vor Eröffnung des Verfahrens versagt haben. Als Ursachen waren grundsätzliche, methodische Widersprüche erkennbar, die aus der Vermischung von Förderziel und Sanktionsdrohung entstehen und nicht, wie dies in der innerschulischen Diskussion erscheinen mag, Widersprüche zwi-schen repetitiven und aktivierenden Unterrichtsmethoden. Tatsächlich handelt es sich um einen Widerspruch zwischen Eingriffs- und Leistungsziel und nicht um eine methodische Differenz zwischen konservativer und reformorientierter Päda-gogik. Das Schulrecht schafft, wie das Sozial- und Jugendhilferecht einen legitimen Handlungsraum, der von offenen bis zu eingreifenden Methoden, von freiwilliger Teilnahme bis zu Zwangsmaßnahmen reicht. Spätestens bei der Förderschuleinweisung wird offenkundig, dass zum „Doppelcharakter“ von Schule nicht nur ein Spannungsfeld von Instruktion und Aktivierung, sondern auch von sozialer Öff¬nung und schichtspezifischer Selektion gehört. Die Konkretisierung überlassen Schulrecht und Rechtsprechung weitgehend dem Beurteilungsspielraum, Können und Profil der zuständigen Lehrkräfte und Schulen. Hieraus resultiert ein Arrangement pseudoprofessioneller Legitimation von Zwangsmaßnahmen. Da die fachlichen Auffassungen über Kompensatorik, Reformpädagogik und Selektion in Profession und Kollegien sehr breit streuen und sich zum Teil sogar in Lagern voneinander abgrenzen, schafft ein weiter Beurteilungsspielraum Raum für dem Fachgespräch entzogene, taktische oder strategisch einsetzbare Entscheidungen der Schulleitungen und der Schulaufsicht. Entprofessionalisierend wirkt auch die Zulässigkeit der Zwangseinweisung mit sofortiger Vollstreckung. Sie erleichtert den Ausschluss von Schülern, stärkt Defizitorientierung im Schulprofil und eine selektionsorientierte Sozialisation der Fachkräfte und Kollegien. Tatsächlich stellt deren Öffnung für Kooperation, Neuerung und Partizipation aber ein entscheidendes Nadelöhr bei der Umsetzung aufbauender Förderung im Zusammenspiel mit der Jugendhilfe und sonstigen Schulpartnern dar.
Benötigt wird in der Praxis eine aufbauende, von kompensatorischen und thera-peutischen Ansätzen völlig verschiedene Methodik. Im Projekt haben sich als Kernelemente eines aufbauenden Ansatzes bewährt: der Aufbau einer von den eingriffsberechtigten Institutionen unabhängigen Schülerberatung, interprofessio-nelle Beratung, die Schaffung einer partnerschaftlichen Gesprächsebene zwi-schen Familien und Schulen durch rechtsstaatlich korrekte Verfahren, fallbezo-gene und wissenschaftlich beratene Vernetzung, praxisbasierte Normsetzung und Politikberatung.

Neue Schülerberatung

Zu empfehlen ist eine aufbauende Schülerberatung zu Biografie, Migration, Fami-lie, Freundschaft, Schule und Beruf. Benötigt wird das tägliche, partnerschaftliche Gespräch. Es gibt Anstöße zur genaueren Beobachtung und Auswertung von Unterricht und Sozialbeziehungen in der Schule. Die Schüler werden zur Einnahme einer bewertenden Perspektive ermutigt, speziell zu Sachthemen, Lernstrategien, Lehrer- und Schülerverhalten und zum Vergleich unterschiedlicher Familiennormen. Problematische Interaktions- und Gesprächsformen und un-günstige Wirkungen des Unterrichts sind auf diese Weise zu ermitteln. Besondere Aufmerksamkeit verdienen moralische Lernbarrieren, die durch schichtspezifisches Verhalten, unbekannte Solidaritäten und Peers, vom Mainstream abweichende Wertvorstellungen über Bildung und Arbeit oder Aberglauben entstehen: Darf man z.B. sagen, dass der Mensch vom Affen abstammt? Durch Schule, Familie oder Freunde geprägte Lern- und Verhaltensstrategien werden gemeinsam mit den Schülern identifiziert, benannt und analysiert. Angestrebt wird eine dis-tanzierte, auswertende und selbstbewusst beobachtende Haltung der Kinder ge-genüber der Schule, die sie als Gesprächspartner im Umgang mit Erwachsenen und im Unterricht befreit und aufwertet.

Befreiung von Lernideologien

Lern- und Verhaltensprobleme sind nicht nur individuell, sondern auch als Folgen kollektiver Aneignungsformen und in diesem Sinne „systemisch“ zu deuten. Ne-ben moralischen Lernblockaden, die aus Solidaritäten in Familie und Nachbarschaft stammen, wirken v.a. positivistische Konzepte von Lernen und Wissens-vermittlung ungünstig auf die Schüler ein. Diese unterstützen gewollt oder ungewollt autoritative Erziehungsauffassungen in den Familien und fügen sich in eine auf Massenloyalität zielende Ideologie wertfreier, technokratischer Wissensanhäufung. Textauswertung unabhängig vom Inhalt, redundante, technische und sinnflache Übungstexte zu Lesen und Schreiben im Schulmaterial können den Blick auf vorhandene Motivation und Ressourcen verstellen. In den Leistungsbewertungen finden sich häufig Verwechslungen von Über- und Unterforderung. Dies erklärt sich durch eine Projektion instruktiver Auffassungen von Unterricht. Hinter der Abwehr von repetitivem Lernen durch die Kinder verbirgt sich oft eine Stärke, Kompetenz oder Kritik an fehlender Tiefe, Berechtigung oder Schönheit. Unbefriedigend bleiben auch die neueren Varianten des instruktiven Ideals: An-wendungsbezug gaukelt Nützlichkeit, Wissensanhäufung Leistung, instrumentel-les Verhalten Ordnung und Disziplin vor. Selbst wenn die Methode feinsinniger angewandt wird, unterstellt sie doch mangelndes Sachinteresse und baut auf instrumentelle Motivation. Positivistisches, vermeintlich wertfreies Lernen im Sach- und Deutschunterricht führt dann zu Desorientierung, Pseudoaktivität und v. a. zum Verlust gefühlter Bildungsprozesse. Die in den Medien massenhaft verbreitete Animation für additives, technisches Wissen und begriffslose Quiz- oder Ra-tespiele verstärken die positivistischen Elemente des Schulunterrichts und sugge-rieren Sinnhaftigkeit repetitiven, autoritätsfixierten Lernens für Eltern und Schüler.

Grenzen reformpädagogischer Ansätze

Es gehört zur reformpädagogischen Substanz der Schulen, dass solche Fehlori-entierungen korrigiert und nicht ausgebeutet werden sollen. Dazu stehen aber auch selbstkritischen Lehrkräften meist nur schichtspezifisch selektive Methoden zur Verfügung, wie die freie Arbeit und das Einklagen individualistisch verstande-ner Selbständigkeit. Undurchschaut bleibt, dass die geistige Aneignung des „positiv“ Gelernten auf die Familien verlagert, in hohem Maße privatisiert stattfindet. Konservative und reformorientierte Ideale und Methoden erscheinen aus Sicht der von Förderschuleinweisung bedrohten Kinder indifferent und austauschbar, auch wenn sie innerschulisch den Fokus der Diskussion zu bilden scheinen. Beim Scheitern der innerschulischen Förderung unterstützen im Streitfall auch reform-pädagogisch orientierte Lehrkräfte die Selektion. Je stärker die Diskussion über die innerschulische Praxis auf Ideale, Methoden und eine individualistische Prob-lemsicht verengt wird, um so weniger greifen die produktiven Ansätze offener Ar-beit und verhäuslichte Gestaltung der „Schulkultur“, da sie entscheidende Ele-mente des sozialen Lernens, das Erkennen von schichtspezifischen Normen, Er-folgs- und Verhaltensnormen, pseudoliberale Ideale von Kompetenz, Kultur und Persönlichkeit, Diskriminierung von Körperlichkeit und Konfliktaustragung unter-schlägt. Bekannt ist die Kritik an der teils elitären Orientierung der Angebots-schulen. Komplizierter und schwieriger zu durchschauen als die Privilegierung ei-ner religiösen Klientel in konfessionellen Schulen sind pseudoliberale Kompro-misse in städtischen Schulen. Dies gilt für die Zweisprachigkeit als Ideal einer besseren Migrantenförderung ebenso wie für die Forderung nach Ausbau der In-tegrationsklassen zur Verringerung von Förderschuleinweisungen. In der Projekt-praxis zeichneten sich gerade zweisprachige Schulen und Schulen mit gemein-samem Unterricht durch eine besonders hohe Selektivität aus.
Die außerschulische Förderung ist auf die Kooperation mit allen Lehrkräften an-gewiesen. Dazu benötigt sie ein von pädagogischen Idealen unabhängiges, im konkreten Fall zu erklärendes gemeinsames Bildungsziel. Sie gewinnt elementar, wenn sie gemeinsam mit Schülern, Eltern und Lehrkräften einen Perspektiven-wech¬sel auf die Metaebene vornimmt. Die Mängel positivistischer und autoritati-ver Methoden werden schon beim Vergleich zwischen den Curricula der verschiedenen Schulformen durchsichtig. Ein Vergleich zwischen Hauptschule, Realschule und Gymnasium reicht aus, um Perspektiven und Verhaltensrepertoirs von Grundschülern zu erweitern. Ständige Ansatzpunkte bietet eine vorgezogene Übergangsberatung zur weiterführenden Schule. Für den kritischen Ver¬gleich von in der Schule Verlangtem mit käuflichem Wissen, technisch nützlicher und höhe-rer Bildung bietet der Fachunterricht meist genügend Ansatzpunkte. Aufbauendes Vorgehen greift auch in der Schule die vorhandene reale Bildungspraxis der Schüler auf, und sei es beim gegenseitigen Erklären von Aufgaben oder Spielen. Der Sachunterricht mag positivistisch ansetzen wie die „Europareise“ und Länder oder Hauptstädte addieren. Diese wecken gleichwohl Erinnerung an Geschichten, Helden und Vorurteile, die zu philosophischen Fragen und Nachdenklichkeit anregen. Solche Ressourcen können Schüler aber nur nutzen, wenn sie deren Me-tatheorie ver¬standen und akzeptiert haben.
Bei den Projektteilnehmern gingen sie teils ins Leere, wenn Schüler sich für diese Art des Lernens schämten, weil sie scheinbar dem Ideal des repetitiven Lernens widerspricht, weil das Ideal nicht eingelöst wurde oder weil die Verbindung von individueller und solidarischer Aneignung in Klasse, Gruppe oder Interaktion aus ihrer Sicht nicht glaubwürdig erschien. Mangelnde Glaubwürdigkeit resultierte ne-ben den Widersprüchen der Settings in Unterricht und freier Arbeit v. a. aus der Verbindung der als unvereinbar erfahrenen Leitbilder Individualität und Solidarität. Hinzu kam die noch fehlende Erfahrung mit Täuschungsverhalten von Schülern und Eltern, für die das Überspielen unterschiedlicher privater Hintergründe, Über-zeugungen und Ressourcen schon im Grundschulalter selbstverständlich ist. Formuliert man die Aufgaben der benötigten Förderung positiv, so ergibt sich das Konzept einer an Familie, Klasse, Unterricht und Freundschaften konkretisierte soziologische Bildung und Einmischung in eigener Sache.
Auch Verhaltensprobleme sind nur begrenzt als individuelles Problem zu deuten. Zu erforschen ist, ob eine mangelhafte Gesprächskultur, repetitive Methodik oder Klientelisierungsprozesse vorliegen. Maßnahmen individueller Verhaltenstherapie, Streitschlichtung und Antigewalttrainings laufen sonst Gefahr, nicht als Stärkung, sondern als zusätzliche Sanktionierung und Anspruchssenkung zu wirken. Wünschenswert wäre aber eine aktive Erweiterung des Verhaltensrepertoirs der Kinder. Bewährt hat sich eine Kombination mit der Schule abgesprochener einfacher, sofort vom Kind umsetzbarer Verhaltensvorgaben (z.B. schrittweise Aus-weitung dezenter Verhaltensregeln) mit der Ausformulierung eigener Normen für Lehrer- und Schülerverhalten aus der Perspektive von Eltern und Kindern.

Von der Förderung zur Retroförderung

Die individuelle Förderung lebt zunächst von der Nachbetrachtung und ihrer Rückwirkung auf Schülerverhalten und Lehrerprognose. Sie greift stärker, wenn sie Rückwirkungen auf Lehrerwahrnehmung, informellen Lehrplan und Stratifika-tion in Klasse, Schule und Freizeit bewusst in den Blick nimmt. Förderung wird dadurch erweitert zur Retroförderung, d.h. zur indirekten Initiation einer Sensibili-sierung des Unterrichts und Hebung des Gesprächsniveaus. Die Lektüre interna-tionaler Kindergeschichten in der Förderung kann, wenn auch einmal eine Ge-schichte in der Schule vorgetragen wird, die Lust am Witz in der Klasse und eine gemeinsame Lektüre anstoßen, die literarische Qualität der Geschichten als Kor-rektiv zum Übungstext wirken. Schülerarbeiten und vorbereitete Unterrichtsbei-träge mögen als kompensatorische Leistungsnachweise dienen. Sie eignen sich aber auch als indirekte Initiation zur Mitgestaltung und auch zur interkulturellen Öffnung von Unterricht.
Eine vergleichbare Wirkung erzielt die Selbstreflexion von Schülern und Eltern zur stratifizierenden Wirkung von Kleidung, Sprechweisen, Gruppennormen und Frei-zeitverhalten. Von den Schülern einmal gewagt, bewähren sich neue Frisur, Klei-dung und Auftreten ebenfalls im Sinne einer Retroförderung, hier als Methode zur Korrektur sedimentierter Prognosen und Verhaltenserwartungen. Die indirekte Initiation zu Schulprogramm und Lehrerverhalten erschließt sich den Lehrkräften gewöhnlich immanent. Sie kann auch konzeptionell besprochen und bis zur Ver-abredung gemeinsamer Unterrichtsprojekte oder Teilelemente des Unterrichts geführt werden. Verabredungen zu Förderplänen, Familienberatung und fachli-cher Förderung sollten möglichst in Verbindung oder aufbauend auf einer den Schülern möglichen Umsetzung getroffen werden.

Alternative Vernetzung

Neue Kollegialität durch interprofessionelle Beratung

Wie in Schüler- und Elternberatung wird auch im Lehrergespräch eine biografi-sche, professionelle und institutionelle Spiegelung von Handlungsweisen benötigt. Als Ausgangspunkt bietet sich ein Vergleich der Wahrnehmung der Kinder aus der Sicht verschiedener Professionen (z.B. Fachlehrer, Förderpädagogen, Sozialpädagogen, Psychologen) an. Material liefert die Ausformulierung impliziter Annahmen über die Kinder und Familien in Zeugnissen, Gutachten oder Alltagsbeobachtung. Eine vergleichende Gegenüberstellung oder „Triangulation“ von Eltern-, Lehrer- und Jugendhilfesicht bei der Verabredung von Förderplänen kann helfen, das fallbezogene Verständnis der beteiligten Laien und Fachkräfte zu verfeinern. Strategien der Konfliktbearbeitung sollten für alle Beteiligten transparent bleiben. Stille „deals“ oder heimliches Beziehungsmanagement im Sinne der Konfliktver-meidung mögen im Einzelfall eine Einweisung vermeiden. Sie tragen aber nicht weit bei der benötigten Förderung und Sensibilisierung für Lebenslagen.
Die gegenseitige Beratung der Fachkräfte sollte am starken Kern der jeweiligen Professionalität ansetzen, bei Lehrern z.B. an der Fähigkeit zur Würdigung des Einzelfalls, dem Anspruch individueller Förderung, sachbezogener Motivation, po-litischer Aufklärung und Emanzipation. Bei Sozialpädagogen wären Ansprüche der Partnerschaftlichkeit, Freiwilligkeit, Fallorientierung, Partizipation und Ge-meinwesenorientierung anzusprechen, bei Psychologen eine hohe Gesprächs-kultur, biografische und systemische Sicht der Familien und die Öffnung des Blicks auf Gemeinde und Institutionen. Diese professionellen Normen sind nicht nur miteinander verwandt. Sie stehen tendenziell auch in Widerspruch zu takti-schen Maßnahmen der Selektion und Delegation in der jeweils eigenen Institution. Der Dialog zwischen den Berufsgruppen schärft den Blick für mangelnde Wirkung und Berechtigung von Therapeutisierung und Klientelisierung im Einzel-fall und stärkt Praktiker, die ihre professionelle Sicht unter restriktiven Vorgaben zur Selektion und Legitimation behaupten wollen. Selbst strategisch angestoßene Selektion, wie sie in der Praxis zur Veränderung des Schulprofils oder aufgrund ungünstiger Normen im Kollegium vorkommen mag, kann von starken Fachkräf-ten korrigiert werden.

Fallorientierung verbessert Kooperation

Die Kooperation im Einzelfall bewährte sich im Projekt über die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule e.V., Internationaler Familienberatung und Anwalts-büro hinaus auch bei Auswahl und Beteiligung weiterer Stellen. Konkret kamen verbindliche Absprachen oder Förderpläne mit dem Interkulturellen Zentrum FIZ e.V. und dem Deutsch Türkischen Verein Köln e.V. (beide Köln-Chorweiler), dem Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen BfmF e.V. und dem Arbeitskreis für das ausländische Kind AAK e.V. (beide Köln-Ehrenfeld), dem Solidaritätsbund der Migranten e.V. in Köln-Porz und der Antidiskriminierungsstelle im Interkulturellen Referat der Stadt Köln zustande, nicht zuletzt auch mit mehre-ren Lehrkräften aus den auf die ganze Stadt verteilten Herkunftsschulen. Förder-pläne wurden im Projekt jeweils aus schulrechtlicher, psychologischer, psychoso-zialer, jugendpflegerischer und schulpädagogischer Sicht gespiegelt und verabre-det, arbeitsteilig umgesetzt und regelmäßig ausgewertet. Schrittweise wurde der Kreis beteiligter Fachkräfte um weitere Mitarbeiter und sonstige kooperierende Stellen erweitert, v.a. dann, wenn die Entfernung für einen regelmäßigen Besuch der Kinder zu groß schien. Gute Voraussetzungen für eine Verbreiterung der Zu-sammenarbeit boten einige Jugendeinrichtungen mit Übermittagsbetreuung und Hausaufgabenhilfen für ausländische Jugendliche in Migrantenzentren, die ein jugendpflegerisches Konzept, Kritik an repetitivem Lernen und Kompetenz in psy-chosozialer Diagnostik umsetzten oder nachvollziehen konnten. Einschränkend wirkten die defizitorientierten, im Verlauf weiter verschlechterten Vorgaben der kommunalen Förderprogramme, insbesondere die Instrumentalisierung der Ju-gendförderung für Finanzierung und Aufbau von Ganztagsschulen. Als bestän-digste Ressource erwiesen sich trotz der unsicheren Beschäftigung oft die infor-mellen Kompetenzen und Praktiken der Förderlehrkräfte und das Zusatzengage-ment sozialpädagogischer Fachkräfte, die an eigenen Wegen der Schülerförde-rung und Beratung arbeiten.

Reformbedarf in Einrichtungen, Förderprogrammen, Jugendhilfe- und Integrationsplanung

Für die aufbauende Förderung werden unabhängige Einrichtungen und Netz-werke mit jugendpflegerischer und interprofessioneller Kompetenz benötigt. Mit-wirkung an der Beratung verlangt Bereitschaft zu Perspektivenwechsel, wechsel-seitige Einarbeitung in Schulfragen, Familienberatung und Integrationsförderung, Teilnahme an moderiertem Vorgehen, Kompetenz und Bereitschaft zu partnerschaftlicher Beratung und Selbstreflexion, v.a. hinsichtlich Defizitorientierung und Klientelisierung, daneben auch kritische Distanz zu eigenen Rekrutierungs-, Ver-netzungs- oder Delegationsstrategien und Mängeln der eigenen Professionsent-wicklung. Diese Voraussetzungen sind nicht Standard. Aufbauende Förder- und Beratungskonzepte sind daher ohne Veränderung der kommunalen Förderrichtli-nien und Programme weder innerhalb noch außerhalb der Schulen in größerem Umfang realisierbar (vgl. hierzu ausführlich: Sozialraumanalyse Köln 2009). Die Ausweitung konventioneller Formen von Schulsozialarbeit, Nachmittagsbetreuung und gemeinsamem Unterricht gehen mit Blick auf ein besseres Förderkonzept ins Leere. Verlässliche Ressourcen sind zwar auf der Ebene individueller Gestal-tungsfreiheit von Fachkräften bei allen Schulen, Fachabteilungen und Trägern der Schülerförderung in der Jugendhilfe anzutreffen. Von einer Steuerung im Sinne von Verbesserung der Förderung kann jedoch keine Rede sein. Ob die versteck-ten Ressourcen im Einzelfall zum Tragen kommen, hängt weiterhin von der Kon-fliktkonstellation, der Vorgeschichte, der Position in Team. Kollegium oder Institu-tion und vom professionellen Niveau der beteiligten Einrichtungen ab. Für den Verzicht auf ein eigenständiges Profil außerschulischer Förderung in der Jugendhilfe gibt es keine fachpolitische Rechtfertigung. Aber auch die Absicht einer Kostensenkung, wie sie bei Horten, Ganztagsbetreuung und GU anstelle von Förderschulen ange¬strebt wird, wird auf diese Weise nicht erreicht.

Wirtschaftlicher Effekt

Nimmt man Bildungskosten von 12200 € pro Schüler und Jahr in Förderschulen, 5700 € in Hauptschulen und 3800 € in Grundschulen an (Zahlen für NRW 2006, vlg. Statistisches Bundesamt, DStatis 2009, S.7), ergibt sich für Schüler, die an der Hauptschule blieben, eine Ersparnis in Höhe von 6500 € und für Grundschü-ler von 8400 € jährlich. Bei 18 vermiedenen Förderschuleinweisungen ergäbe sich in sechs erwarteten Förderjahren an der Hauptschule eine Einsparung von bis zu 900000,- Euro im Vergleich zu 300000 Euro der Projektkosten für 3 Jahre.

Zaschke, W.: Praxisbericht Fluchtpunkt Sonderschule, in: Heilpädagogik Online 2(2010), S. 49-67, download: http://www.sonderpaedagoge.de/hpo/archiv/jg9.htm