Schule im Bild

Ergänzung schulischer und außerschulischer Lernprozesse im Nippes Museum

sib1Eine öffentliche Nachhilfeschule wollen sie nicht sein, aber auch kein reiner Freizeittreff. Die Schule soll nicht das Pensum diktieren, aber die Jugendlichen, die zu ihnen kommen, sollen auch nicht den Anschluß verlieren, sondern den wichtigen Schulabschluß erreichen. – Der Jugendladen Köln-Nippes ist eine Modelleinrichtung, die Schülerhilfe, Beratung, Projektarbeit und Sprachförderung unter einem Dach vereint. Die Schülerhilfe ist die Anlaufstation, das Konzept, das die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den verschiedenen Maßnahmen erwartet, greift über den Ausgleich schulischer Defizite hinaus.

Der komplementäre Ansatz

Was ist an dem Jugendmuseum modellhaft? Bei der Hausaufgaben- und Nachhilfe verfolgen Wolfgang Zaschke, Sozialwissenschaftler und Leiter der Einrichtung, und seine Mitarbeiter einen aufbauenden, komplementären Ansatz. Er unterscheidet sich von einem kompensatorischen Ansatz, der auf den Ausgleich bestehender Defizite zielt und sich in der Erledigung der anstehenden Hausaufgaben oder in Sprachkursen erschöpft. Auf dem grauen Markt dieser Art „Schülerhilfe“ habe sich eine regelrechte „Nachhilfeindustrie“ entwickelt, meint Zaschke, die aber keine Konkurrenz für eine soziale Einrichtung darstelle.

Wolfgang Zaschke und sein Team setzen auf die Fähigkeiten, auf das Können der Jugendlichen. Für sie stehen nicht die Mängel im Vordergrund. Die jungen Leute sollen an den Veranstaltungen des Jugendladens freiwillig teilnehmen und nicht auf Druck der Schule. „Viele kommen auch hierhin, um ihre Freizeit zu verbringen. Sie bringen ihre Freunde mit, diskutieren mit Schülern anderer Schulen, bekommen allmählich Spaß am Lernen, wie wir es betreiben.“

ki96_001„Wir haben hier Kinder, die unter traumatischen Situationen im Unterricht leiden“, ergänzt Zaschke, „Angst vor Rückstufung in eine andere Schulart haben oder vor einem Schulwechsel. Das sind tiefe Erfahrungen, die schon im Kindergarten gemacht werden.“ Von „positiver Diskriminierung“ spricht er und meint damit, daß Lehrer oft – in guter Absicht – ausländische Schüler dann drannehmen, wenn die Frage besonders einfach ist, oder daß sie in Extra-Förderkurse „abgeschoben“ werden. „Sicherlich sind solche Kurse nützlich, doch auf das Wie kommt es an.“

Die „Bunte Kiste“

Das NIPPES MUSEUM geht neue Wege bei dem Versuch, solche Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen herauszuarbeiten, sie besprechen und in der Gruppe gemeinsam vergleichbar machen zu können. Für die Jüngeren gibt es zum Beispiel eine „Bunte Kiste“. Da kann jeder Bilder, selbstgebastelte Puppen oder andere Alltagsgegenstände hineinlegen. Sie dokumentieren für den Jugendlichen oder das Kind einen bestimmten Lernprozeß, der zu einem „Lebensprozeß“ geworden ist. Der Gegenstand kann eine bemalte Streichholzschachtel sein, ein Stein, eine Zeichnung. Irgendwann – so die Erfahrung – erzählt das Kind die Geschichte, die dazu gehört, und hat damit einen ersten Schritt in die Gruppe, zu einem neuen Lebensabschnitt getan. „Viele erfahren allein schon dadurch eine Aufwertung“, sagt Wolfgang Zaschke, „daß es überhaupt jemanden interessiert, was sie machen, und nicht nur das wahrgenommen wird, was der Norm entspricht.“

sib4Was er unter komplementärem Lernen versteht, erklärt der Sozialwissenschaftler mít drei eher fremden Begriffen: Biographisches Lernen, Maschinenlernen, öffentliches Lernen.

Alle drei Gebiete – so Zaschke – liegen außerhalb des in der Schule üblichen, bewußt angeregten Lernens. „Unter biographischem Lernen verstehen wir Wissensbestände, die sich analog der Lebensgeschichte aufbauenga95_003. Ein Schüler hat zum Beispiel in der 7. Klasse eine klare Vorstellung davon, was Beschleunigung heißt – vom Fahrradfahren oder weil er mit dem Vater Auto fährt. Derselbe Schüler wird an der Schule aber erst in der 10. Klasse in Physik mit dem Thema in Berührung kommen – und dann kann er das Interesse verloren haben.“

Unter „Maschinenlernen“ versteht das Team das sich unbewußt einschleifende Wissen: Was muß ich in meiner Gruppe können, wenn ich durchkommen will? Wie funktionieren Kino, Konsum, Disko? „Solche Prozesse werden oft über das Fernsehen und gleichsam automatisch, maschinell vermittelt.“ Entgegen der konventionellen, meist beschützenden Reaktion auf die Gefahren des „Maschinenlernens „, wie man sie beim Jugendschutz kennt, seien auch seine produktiven, den privaten Lebensraum überschreitenden Erfahrungen zu beachten.

„Öffentliches Lernen“ schließlich meint, Projektangebote zu finden und umzusetzen, die das politische Lernen handlungsbezogen aktivieren. Jugendliche lernen in der Gruppe malen, handwerklich mit Material umzugehen oder lesen und schreiben – und das in einer Umgebung, in der man diese Fähigkeiten wirklich braucht und direkt umsetzen kann, zum Beispiel für die Jugendladenzeítung, für die Stadtteilerkundung oder die Stadtteilanalyse des Vereins, in der Altenhilfe oder zur Betriebs- und Berufserkundung.

In jüngster Zeit konzentriert sich die praktische Arbeit auf das Nippes Museum. Es wird die von den Jugendlichen produzierten oder gesammelten Dokumente zur eigenen Biographie, zur Maschinen- und Medienwelt oder zu öffentlichen Ereignissen aufbereiten und regelmäßig in bunten Ausstellungen präsentieren. Schulklassen und andere Jugendeinrichtungen sind eingeladen, dieses Museum zu besuchen. Derzeit sind zu sehen Bilder und Texte zu den Themen „Eritrea nach dem Krieg“, „Alt und Jung im Stadtteil“ und „Schule im Bild“.

Wolfgang Zaschke: „Beim Lernen, das offiziell nicht registriert wird, entscheidet sich die Motivation des Kindes oder des Jugendlichen, sich für einen Beruf oder ein bestimmtes Ziel einzusetzen. In der Schule – so hören wir von unseren Teilnehmern, leider auch aus den allgemeinbildenden Schulen und den Oberstufen – komme es gar nicht auf den Stoff an. Hauptsache man schafft den Abschluß, um dann viel Geld verdienen zu können.“

Und was sagt die Schule dazu?

Reinhard Hocker, Hauptschullehrer in Köln-Nippes und in der Lehrerfortbildung tätig, hat bis jetzt nur zugehört. „Die Grenzen der Institution Schule wurden uns immer deutlicher“, sagt er nachdenklich. „Was wir uns von den Reformen der 1960er und 1970er Jahre versprochen haben, hat sich nicht erfüllt.“ Die Folge: Heute gibt es nicht nur schulschwänzende Kinder, sondern auch „schulflüchtige Lehrer.

Hocker findet die Orientierung auf Lernziele in der Schule wichtig und nach wie vor richtig. „Doch der Ansatz hat einen Fehler: Der Lehrer verliert die Lebenswelt des Schülers aus dem Blick: Was die Schüler am Nachmittag machen, welche Wertehierarchien und soziale Kompetenzen sie haben.“ Jugendhilfe – so Hocker – ist näher dran. Seine Kollegen fühlten sich – ob zu Recht oder Unrecht – überfordert, wenn sie das alles auch noch berücksichtigen sollten. „Lehrer verstehen sich als Fachleute zur Vermittlung von Inhalten“, betont Hocker. „Sie können Sozialarbeiter nicht ersetzen, und umgekehrt geht das auch nicht.“ – Da stimmt Wolfgang Zaschke lebhaft zu: „Wenn wir die Grenzen der Institutionen verwischen, tut das beiden nicht gut.“

Was aber können Jugendhilfe und Schule gemeinsam tun? Hocker: „Wir müssen unter den Lehrern andere Sichtweisen einüben, die Trennung Jugendhilfe und Schule überwinden. … “ Lehrer, die einmal kennengelernt hätten, was Sozialarbeiter tun und welche Perspektive sie haben, unterstützten das, was etwa der Jugendladen Nippes macht. „Diese Arbeit kann gerade den Hauptschullehrern auch einen Teil ihrer Angst nehmen“, ist Hocker überzeugt, „Angst vor Gewalt, vor religiösem Fanatismus, .. “

Und die Kinder und Jugendlichen? Wenn seine Schüler im Jugendladen Nippes gewesen seien, merke er, daß dort über die Institution nachgedacht worden sei. „Sie müssen bedenken, daß für viele – gerade ausländische – Jugendliche die Institution Schule mit ihren besonderen Verhaltensnormen nicht durchschaubar ist. Schule hat Spielregeln, wann Lernen wichtig ist, wann man sich anstrengen muß, wie man sich vor Klassenarbeiten vorbereiten muß, … “ Der Lehrer ist überzeugt davon, daß ein Schüler, der nicht eine gewisse Gelassenheit beim Umgang mit der Schule gelernt hat, scheitern wird.

Wolfgang Zaschke und Reinhard Hocker haben den Blick über die Grenzen ihrer Einrichtungen gewagt. Für den Lehrer bedeutete das eine Annäherung an bisher zu wenig berücksichtigte Lebenswelten; für den Sozialpädagogen ein Schritt zu einer ganzheitlichen Arbeit, zu einer Arbeit, die nicht einen, sondern möglichst viele, die Lebenswelt des Jugendlichen berücksichtigende Aspekte einschließt. Was sie sich wünschen? Wolfgang Zaschke möchte eine „Stärkung der Jugendhilfe als Institution“ erleben gegenüber dem übermächtigen „Partner“ Schule. Reinhard Hocker: „Ich möchte Lehrer ausbilden, die mehr über die Grenzen ihrer Institution nachdenken und die für neue Ansätze offen sind.“

Aus: KABI – Konzertierte Aktion Bundes Innovationen Nr. 23

Ansprechpartner: Gülcihan Kaya; Wolfgang Zaschke